So schalk und schön und weh: "Du bist wie eine Blume"

von Rolf-Peter Wille

     Du bist wie eine Blume,
     So hold und schön und rein;
     Ich schau' dich an, und Wehmut
     Schleicht mir ins Herz hinein.

     Mir ist, als ob ich die Hände
     Aufs Haupt dir legen sollt',
     Betend, daß Gott dich erhalte
     So rein und schön und hold.

                   Heinrich Heine, 1823


Wer ist die holde Blume, die hier so hold besungen? Nun – sie ist doch sicher das Gedicht selbst. Es singt so hold und schön und rein und einfach und natürlich. So "natürlich" beinahe, dass wir seine Schönheit überhören. Und seine Ironie.

Nehmen wir einmal an, Gott hätte das Gebet nicht erhört, das Blümchen verdorren lassen. Es könnte dann so klingen:

     Oh wunderliche Blume,
     Wie bist du schön und rein!
     Wenn ich dich seh’ zieht Trauer
     Mir tief in’s Herz hinein.

     Wie gern ich meine Hände
     Auf’s Haupt dir legen wollt’!
     Ach daß dich Gott erhalte,
     So bleibst du ewig hold!

Aber was ist hier verdorrt? Vielleicht wird man bei flüchtigem Lesen gar keinen besonderen Unterschied spüren. Ich übertreibe also noch ein wenig:

     Oh schöne, holde Blume,
     Du bist so rein und rar.

Rezitiere diese zwei Zeilen laut und es wird offensichtlich (bzw. offenhörbar): der Vers leiert. Gleich stark sind die sechs Betonungen. Nur "bist" mag ein wenig schwächer sein. Im Gegensatz dazu ist bei den Originalzeilen die rhythmische Form gestaltet:

     Du bist wie eine Blume

Der Akzent auf "ei" ist außerordentlich schwach und erzwingt eine Beschleunigung, ein sanftes Hinübergleiten beim Vortrag von "wie" bis hin zum Hauptakzent "Blu". "Bist" mag stärker betont sein als "ei" doch erheblich schwächer als "Blu". Durch die Konsonanten "st" ergibt sich eine leichte Verzögerung (Fermate) nach "bist". "Du bist" enthält eine fast unmerkliche Stauung; "wie eine Blume" ist eine entspanntes Ausrollen im Legato:

     Du  bíst… wieeineBlúme,

Im Gegensatz zur ersten hat die zweite Zeile – so hold und schön und rein – drei gleichstarke Akzente und erzwingt ein Ritenuto, verstärkt noch durch die Wiederholung des "und" ("episches" Polysyndeton). Die Zeit scheint stillzustehen in diesem "so hold - und schön - und rein". Heine hätte diese Wirkung sicher noch unterstreichen können: "so hold, so schön, so rein!" Zum Glück aber tat er es nicht, denn es klänge doch so wenig hold. Eher marktschreierisch: "Kauf Blumen! So hold, so schön, so rein!" Alliteration und Assonanz hat er vermieden, der Heine nämlich. "Hold", "schön" und "rein" haben außer dem "n" in "schön" und "rein" gar keine Buchstaben gemein. Warum nicht Alliteration: "so rar und rein", oder "so hübsch und hold"? Warum nicht Assonanz: "so sanft und zart", "so rein und fein"?

Jede Betonung in den ersten beiden Zeilen ist auf einem anderen Vokal: "bist", "Blu", "hold", "schön", "rein" - i-u-o-ö-ei. Die Wirkung dieser Vielfalt ist nicht nur eine "blumige" Farbigkeit sondern auch ein Verhalten des Tempos: "hold" - "schön" - "rein"; jedes Adjektiv erblüht neu in unserem Ohr ("O hohe Blum im Ohr"?). Während also die graziöse Beschleunigung in "wieeineBlúme" der ersten Zeile dem Aufsprießen der Blume entspricht, beschwört die zweite Zeile das (dreimalige) Erblühen.



















Diese blumige Wirkung, Aufkeimen - Erblühen", ist weder prosaisch beschrieben, noch metaphorisch umschrieben sondern durch klangliche und rhythmische Gestaltung hervorgerufen. Vergleiche nun den Prosasatz:

     Du bist so hold, schön und rein wie eine Blume

oder eine Kitschmetapher:

     Oh Blume meiner Liebe,
     Du Schönheit hold’stes Rein!

mit dem Original:

     Du bist wie eine Blume,
     So hold und schön und rein;

Wie anders nun die dritte und vierte Zeile! In meiner "verwelkten" Version – wenn ich dich seh’ zieht Trauer mir tief in’s Herz hinein – leiert der Vers ebenso weiter wie in den ersten beiden Zeilen. Ein wenig besser wäre da schon:

     Wenn ich dich seh’ zieht Trauer
     Tief in mein Herz hinein.

"Tief" auf der ersten Silbe erzeugt nun einen "Vorhalt", eine charakteristische, sehnsuchtsvolle Fermate, die sich dem Geleiere entgegenstemmt. Bei Heine gibt es genau so eine Fermate auf "schleicht":

     Ich schau dich an, und Wehmut
     Schleicht mir ins Herz hinein.

Unterstrichen wird die langsam "schleichende" Wirkung noch vom leicht "schmierigen" "sch". Die gewöhnliche "Trauer" ist durch die "Wehmut" ersetzt und ihr sehr gedehntes "eh", ein neuer Vokal, dissoniert schmerzvoll mit den "o-ö-ei"-Lauten der zweiten Zeile. Harmlos, fast beschaulich, beginnt die Zeile zunächst: "Ich schau dich an". Was erwarten wir nun hier für eine Fortsetzung? Wohl

     Ich schau dich an und Liebe
     Erblüht im Herze mein.

Wenn dann, statt der Liebe, die Wehmut sich einschleicht so ist’s verblüffend, ironisch – "hold und schön und rein" bei "dir" und "schleichende Wehmut" bei "mir".













Die rhetorisch/musikalische Gestalt der ersten Strophe ist damit:

These (oder Proposition):

     1. Zeile: "Aufkeimen" (Vordersatz oder Antecedent)
     2. Zeile: "Blüte" (Nachsatz oder Konsequent)
                                                        "rein" = Halbschluss (half cadence)
Antithese (oder Refutation):

     3. Zeile und 4. Zeile (Antecedent: "Ich schau dich an"; Konsequent beginnt bereits in der dritten Zeile)
                                                     "hinein" = Schluss (full cadence)

Der Vorhalt auf "schleicht" verstärkt das Weiterziehen (Zeilensprung oder Enjambement) von der dritten zur vierten Zeile. Die Strophe entspräche so ungefähr einer viertaktigen Phrase in der Musik: 1 Takt + 1 Takt + 2 Takte. In der zweiten Strophe dann gibt es kaum Zäsuren zwischen den Zeilen. Der Gesamtbau des Gedichts entspräche mithin einer achttaktigen Phrase: 1 + 1 + 2 + 4 oder auch einer 16-taktigen Periode: 2 +2 + 4 + 8.

Bezeichne ich die ersten zwei Zeilen als These, die nächsten zwei als Antithese (nicht logische sondern poetische Antithese!), so ist die zweite Strophe die Synthese. Sie verbindet das Du mit dem Ich – deutlich getrennt noch in der ersten Strope – meine Hände mit deinem Haupt. Freilich nur in der Vorstellung.

Hier ist die Strophe als Prosasatz:

     Ich sollte meine Hände auf dein Haupt legen und beten, dass Gott deine Schönheit erhalte.

Nur "sollte"? Aber ich mache es nicht? Bei Heine ist es noch indirekter. Mir ist’s nur so, als ob ich sollte. Dies wirkt ironisch wieder, besonders auch, da "mir ist" offentsichtlich das "Du bist" des Anfangs parodiert.

Mir ist heiß. Mir ist schlecht (wenn ich diese Analyse lese). Aber "mir ist, als ob ich sollte"? Hier ist die mögliche Tätigkeit nur noch ein Sentiment: Nach diesem schweren Mahl ist’s mir, als ob ich die Beine zum Fitness Studio tragen sollt. Aber das mache ich natürlich nicht sondern trinke ein Digestif.

Wieder haben wir ein Enjambement, einen Verssprung von "Hände" auf’s "Haupt". Dieser fiktive Berührungspunkt zwischen "ich" und "du" ist chiastisch, kreuzweise, gestaltet von Heine:







Die Alliteration Hände - Haupt verstärkt noch die Wirkung.

Man vergleiche dies mit den gewöhnlichen Formen:

     Mir ist als ob ich die Hände
     sollt legen auf dein Haupt

oder:

     Mir ist, als sollte ich legen
     die Hände auf dein Haupt
     (betend daß dir die Schönheit
     der Böse niemals raubt.)

Aber bei Heine endet die erste Zeile mit den Händen und mit dem Haupt beginnt die zweite, und so haben wir zwei verschiedene Richtungen.

"Betend" ist, wie "schleicht" zuvor ein "Vorhalt" (Betonung fällt auf die erste, eigentlich unbetonte Silbe) dessen langes "e" ein wenig an die "Wehmut" erinnert.

"Betend, daß Gott dich erhalte": "Erhalten" kann zwei Bedeutungen haben: bewahren oder bekommen. Beides könnte zutreffen, wie beim Arzt, der sowohl meine Gesundheit als auch mein Geld "erhält". Google Translate wird hier statt "praying that God may keep you" durchaus "Praying that God will get you", oder "receive you" übersetzen. Zunächst eine recht unsinnige Entscheidung, die jedoch das Gebet in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen kann, nämlich, dass "du" hoffentlich im Tode noch rein sein wirst und also die ewige Seligkeit erlangst.

Aber die Parodie in der letzten Zeile, wie sie "hold und schön und rein" so hold verdreht zu "rein und schön und hold" lässt mich doch wieder zweifeln an dieser Auslegung. Es klingt doch ironisch wieder und mir ist, als ob hier ein Atheist durch "deine Schönheit" beinahe zum Beten verführt worden wäre.



Gern möchte ich doch abschließend noch ein wenig über die seltsame Liaison zwischen der Schönheit und der Wehmut philosophieren. Aber ich tu es lieber nicht und gebe stattdessen drei Auszüge aus Anton Tschechows Erzählung "[Zwei] Schönheiten" von 1888:

In einer Kutschen-Reise mit seinem Großvater nach Rostow am Don, kommt der Erzähler als Junge in ein armenisches Dorf und kehrt bei einem Armenier, Freund seines Großvaters, ein. Die Tochter des Armeniers ist eine wahre Schönheit und als sie dem Jungen ein Glas Tee reicht, ist ihm, als wenn "ein Wind über seine Seele weht":

"Mich berührte diese Schönheit auf seltsame Weise. Es war weder ein Begehren, noch Lust oder Freude, die Mascha in mir weckte, sondern eine schmerzliche doch angenehme Traurigkeit. Unbestimmt war diese Traurigkeit, und vage wie ein Traum. Warum fühlte ich Mitleid mit mir selbst, mit meinem Großvater und mit dem Armenier und sogar mit dem Mädchen selbst? Und ich fühlte, als wenn alle vier von uns etwas Wichtiges und Lebennotwendiges verloren hätten, etwas, das wir niemals wieder finden würden. Sogar mein Großvater wurde melancholisch und hörte auf, über Dünger und Schafe zu reden, und schaute nachdenklich auf Mascha."
[…]
"Und je öfter all ihre Schönheit vor meinem Auge funkelte, desto stärker wurde meine Traurigkeit. Ich bedauerte sowohl mich, als auch sie, als auch den kleinen Russen, dessen Augen sie jedesmal traurig verfolgten, wenn sie durch eine Wolke von Spreu zu den Wagen lief. Ob ich auf ihre Schönheit eifersüchtig, oder bedauerte, dass sie nicht mein Mädchen war und nie sein würde, und dass ich für sie nur ein Fremder; oder ob ich vage fühlte, dass ihre seltene Schönheit zufällig, unnütz und -- wie alles auf Erden -- kurzlebig, oder ob meine Traurigkeit vielleicht dem eigenen Gefühl entsprang, welches im Menschen bei der Betrachtung wahrer Schönheit erwacht, weiß Gott allein."
Der dritte Abschnitt bezieht sich auf eine andere Schönheit im Zug:
"In der Nähe unseres Waggons mit seinen Ellenbogen auf dem Geländer stand der Schaffner und schaute in Richtung des schönen Mädchens, und sein zerschlagenes, schlaffes, unangenehm aufgedunsenes Gesicht, von schlaflosen Nächten ermüdet und dem Rütteln des Zuges, erhielt den Ausdruck tiefsten Gefühls und Traurigkeit, als ob er sein Glück, seine Jugend in diesem Mädchen sah, seine Nüchternheit, Reinheit, Frau, Kinder; als wenn er Buße tat und in seinem ganzen Wesen fühlte, dass dieses Mädchen nicht für ihn war, und dass für ihn, den Ungeschlachten, den frühzeitig Gealterten mit seinem aufgedunsenen Gesicht, das gewöhnliche Glück eines Mannes und eines Passagiers so weit enfernt war wie der Himmel."






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